M. Wihoda: Mähren im Zeitalter der Fürstenherrschaft 906–1197

Cover
Titel
Morava v době knížecí 906–1197 [Mähren im Zeitalter der Fürstenherrschaft 906–1197].


Autor(en)
Wihoda, Martin
Reihe
Česká historie 21
Anzahl Seiten
467 S.
Preis
369,00 Kč
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Karel Hruza, Institut für Mittelalterforschung, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Der Brünner Hochschulprofessor Martin Wihoda lässt auf seine politische Biografie des mährischen Markgrafen Vladislav Heinrich (gestorben 1222)1 eine drei Jahrhunderte umfassende Darstellung Mährens folgen. Das Buch konkurriert mit dem „Mittelalterlichen Mähren“ von Josef Válka und steht an der Seite des im selben Verlag erschienenen „Böhmen im Zeitalter der Fürstenherrschaft (1034–1198)“ von Josef Žemlička.2 Während dieser versuchte, eine Geschichte des böhmischen „Staates“ unter Einschluss der Geschichte Mährens zu liefern und Válka eine traditionelle Landesgeschichte bot, konzentriert sich Wihoda auf die werdende Markgrafschaft bzw. das werdende Land Mähren unter Rezeption neuester internationaler Forschungen, so auch der Archäologie. Sein Buch gliedert sich in acht Kapitel, deren abstrakte Titel den Inhalt meistens nur erahnen lassen: 1. Das nahe und das ferne Mähren, 2. Versuch einer Inventur, 3. Der lange Epilog der Zeit Mojmírs, 4. Zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen, 5. Leben und Zeit des Olmützer Bischofs Heinrich Zdík, 6. Ein schwieriges Erbe, 7. Koordinaten und Parallelen des Landes (Zemské souřadnice a paralely), 8. Post Scriptum: Drei mährische Haltepunkte. Es folgen der Anmerkungsapparat, Stammtafeln der Olmützer, Brünner und Znaimer Přemysliden, Listen der Olmützer Bischöfe und přemyslidischen Fürsten in Mähren sowie schließlich Verzeichnisse der Quellen, Literatur, Abkürzungen und Abbildungen und ein Personen- und Ortsregister. Aufgelockert wird das Buch durch zahlreiche, oftmals jedoch zu kleine Schwarz-weiß-Abbildungen.

Im ersten Kapitel präsentiert Wihoda einen Forschungsüberblick und kommt zu dem Ergebnis, dass die Geschichte Mährens des 11. und 12. Jahrhunderts oft als unbedeutendes Zwischenspiel galt, welches vom „Großmähren“ (richtig: Altmähren) des Frühmittelalters zum „ständestaatlichen“ Mähren des Spätmittelalters führte. Tschechische Historiker ließen sich überwiegend vom nationalpolitisch unterlegten Paradigma des böhmischen Staatsrechts leiten, das sie bis in die Gegenwart veranlasste, sich auf die beständige Suche nach dem mittelalterlichen böhmischen „Staat“ zu begeben. Wihoda möchte diesen Weg verlassen und orientiert sich am „Land“ Mähren und hier unter anderem an Ferdinand Seibt, der 1965 feststellte, dass die von Otto Brunner erstmals 1939 anhand österreichischer Beispiele aufgestellten Thesen zum mittelalterlichen Land auch für Böhmen und Mähren Gültigkeit beanspruchen können.3 In weiterer Folge behandelt Wihoda die klassischen Themen der Geschichte Mährens im Hochmittelalter: die Frage nach der Intensität einer Kontinuität zum Altmährischen Reich, die Wiedererrichtung eines Bistums in Mähren, die „mährischen“ Přemysliden und ihr Beziehungsgeflecht mit den „böhmischen“ Přemysliden, das Verhältnis Mährens zu Böhmen, die Entstehung und Funktion mährischer Vororte und die verwaltungsmäßige Unterteilung Mährens, die Genese der Markgrafschaft Mähren, das Wirken des Bischofs von Olmütz, Heinrich Zdík, die Geschichtsschreiber in Mähren, die Rotunde in Znajm.

Die Schlussphase des Altmährischen Reiches wertet Wihoda als allmählichen Niedergang und nicht nur als ein von den Ungarn herbeigeführtes abruptes Ende. Die Frage nach der Formierung přemyslidischer Herrschaft im mährischen Raum ist für Wihoda von Bedeutung, weil Historiker aus der Tschechoslowakei, Ungarn und Polen seit den 1960er-Jahren das mitteleuropäische Modell eines Staates im Mittelalter entwarfen und propagierten, das noch kürzlich vehement verteidigt wurde.4 Seine Gültigkeit postulierten sie, ausgehend von einer angeblichen Ähnlichkeit ökonomischer, sozialer und verfassungsrechtlicher Verhältnisse, für Böhmen, Mähren, Ungarn und Polen der Zeit vom 10./11. bis zum 13. Jahrhundert. Das gesamte Eigentum an Besitz- und Herrschaftsrechten soll dem Fürsten zugefallen sein, der an der Spitze der Gesellschaftspyramide stand und einen gut organisierten „Staat“ regierte. Wie diese dichte Herrschaft aber verwaltet wurde, blieb ungeklärt. Zur Blaupause für dieses Modell wurde aber der altmährische „Staat“ Svatopluks deklariert, der an seiner Peripherie den Untergang des Zentrums überdauert haben soll. Wihoda vertieft eine bereits 1980 geäußerte Kritik an diesem Modell und der Vorbildfunktion der altmährischen Staatsform und rezipiert dazu die neuesten Forschungsergebnisse zum mittelalterlichen „Staat“.5 Als Ergebnis wird die Vorbildfunktion des Svatopluk-Staates abgelehnt und stattdessen die Rolle kirchlicher Verwaltungsstrukturen unterstrichen.

Den Beginn přemyslidischer Herrschaft in Mähren setzt Wihoda in das Jahr 1029, wobei die Přemysliden auf bereits vorhandene Herrschaftsstrukturen aufbauen konnten und ihre Herrschaftszentren nicht auf grüner Wiese errichteten. Eine mährische Gesellschaft wurde unter Partizipation der mährischen Großen an Herrschaft in den přemyslidischen Herrschaftsverband integriert. Im „neuen“ Mähren verbanden sich alte mährische mit neuen böhmischen Traditionen und Gewohnheiten. Die Bedeutung der mährischen Vororte Olmütz, Brünn und Znaim trat alsbald zutage. Im Kapitel über den Olmützer Bischof Heinrich Zdík (1126–1150) liefert Wihoda eine biografische Skizze dieses für Böhmen und Mähren wichtigen Organisators und Reformers. Die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bei přemyslidischen Fürsten fassbare Würde „Markgraf von Mähren“ sieht Wihoda zunächst nicht an verfassungsrechtliche Gegebenheiten einer Markgrafschaft Mähren gebunden, sondern als Ausdruck eines Rechtes zum Herrschaftsantritt in Prag, dem Zentrum des přemyslidischen Fürstentums. Am Ende der skizzierten Entwicklung steht am Beginn des 13. Jahrhunderts ein Mähren, das sich im Lauf dieses Jahrhunderts als ein Land zeigen wird, das weit mehr strukturelle Parallelen zu Niederösterreich als zu polnischen oder ungarischen Gebieten aufweisen wird.

Zu kritisieren bleibt nicht viel, wenn akzeptiert wird, dass das Buch einen mit vielen Fragen versehenen Anstoß zur Diskussion bieten will. Auffallend ist, dass Otto Brunner und sein Begriff des mittelalterlichen Landes zwar (nicht fehlerfrei) vorgestellt werden, eine Verifizierung am Beispiel Mähren aber ebenso unterbleibt wie eine gezielte Analyse einer Landwerdung. Das mag insofern nicht verwundern, als Brunners Thesen zuvorderst an Quellen des Spätmittelalters erarbeitet wurden und Brunner ihre Gültigkeit für die Zeit vor 1300 nirgends behauptet hat. In diesem Bereich wären zudem die Unterschiede zwischen dem mittelalterlichen Land im Sinne Brunners und der Idee vom Personenverband oder „Personenverbandsstaat“ (Theodor Mayer) und auch die Modifikationen Max Weltins zu beachten. Die Frage nach „Land und Herrschaft“ in Mähren ist somit wieder einmal aufgeworfen, eine Antwort steht aus. Bei den Karten zu Mähren um 1055 (S. 123) und um 1200 (S. 262) wäre eine genauere Erklärung hilfreich. Im Kapitel zu Heinrich Zdík hätten die Regesta Imperii (IV.1, 2. Teil) zu König Konrad III. von 2008 stärker zu Rate gezogen werden können.

Wihoda bevorzugt eine mit Abstraktionen durchsetzte literarische Sprache. Das führt einerseits zu einer flüssigen Lesbarkeit des Buches, beschert andererseits aber unklare Formulierungen. Ein Satz wie „Bereits im frühen 10. Jahrhundert traten die Mährer in die klösterlichen Skriptorien ein“ (S. 55) soll etwa umschreiben, dass damalige Chronisten eine Gruppe als „Mährer“ wahrnahmen und in ihre Geschichtswerke aufnahmen. Ob alle Leser das so verstehen werden, könnte bezweifelt werden.

Das Buch bietet einen überzeugenden Versuch, eine Geschichte der Herrschaftsbildung in Mähren im Hochmittelalter unter Einbeziehung sozialer und kultureller Aspekte darzustellen, die sich in vielen Bereichen abseits der bisherigen Pfade bewegt und dadurch geschichtswissenschaftliche Prämissen und Paradigmen des Realsozialismus hinter sich lässt. Wihoda stellt viele Fragen, bietet aber nicht immer Antworten; einiges scheint sogar unfertig. Interessant ist dabei, dass diese nicht geschlossene Geschichte Mährens trotzdem Potential für eine Identitätsstiftung bereithält. Es bleibt vor allem zu hoffen, dass das anregende Buch zu weiteren Diskussionen und Modifikationen älterer Forschungsmeinungen führen wird.

Anmerkungen:
1 Martin Wihoda, Vladislav Jindřich, Brno 2007.
2 Josef Válka, Středověká Morava. Dejiny Moravy 1, Brno 1991; Josef Žemlička, Čechy v době knížecí (1034–1198) [Böhmen im Zeitalter der Fürstenherrschaft (1034–1198)], 2. Aufl. Praha 2007, vgl. Karel Hruza: Rezension zu: Žemlička, Josef: Čechy v době knížecí (1034–1198). [Böhmen im Zeitalter der Fürstenherrschaft (1034–1198)]. Prag 2007, in: H-Soz-u-Kult, 21.01.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-054> (01.08.2011).
3 Ferdinand Seibt, Land und Herrschaft in Böhmen, in: Historische Zeitschrift 200 (1965), S. 284–315. Hinweise, auf die Thesen Otto Brunners am Fall Böhmens und Mährens einzugehen, gab der Rezensent in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 47 (2006/2007), S. 206–209; ebd. 48 (2008), S. 276–278.
4 Siehe Dušan Třeštík, Josef Žemlička, O modelech vývoje přemyslovského státu [Über Modelle der Entwicklung des přemyslidischen Staates], in: Český časopis historický 105 (2007), S. 122–163.
5 Stanisław Russocki, Vznik vládního systému a způsob panování v patrimoniálních monarchiích střední Evropy. Několik diskusních poznámek, in: Československý časopis historický 28 (1980), S. 399–413; Walter Pohl / Veronika Wieser (Hrsg.), Der frühmittelalterliche Staat. Europäische Perspektiven, Wien 2009.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension